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Eine Familie aus der Sarayaku-Gemeinschaft kehrt nach einer Minga (Kichwa) mit dem Boot zurück. Die Minga ist der ultimative Akt der Solidarität in einer gemeinschaftlichen Gesellschaft. Foto: Nicola Ókin Frioli

Für einen

Klimawandel

der Empfindung

Westliches, rationales Denken steht einem mitfühlenden Bezug zur Welt im Weg. Von den Weisheitstraditionen ortsgebundener Gemeinschaften könnten wir hingegen lernen, eine Ökologie der Gegenseitigkeit auszubilden.

Von Frank Steinhofer
Fotos: Nicola Ókin Frioli
Veröffentlicht am 5. Januar, 2022

Das Feuer loderte. Rauchsäulen stiegen empor, ein kräftiger Wind trug sie in die Ferne. Der Regenwald im Amazonas brannte. Es war das Jahr 2019, die Geschehnisse gleichen sich bis heute.

In den Nachrichten zirkulierten Bilder der Zerstörung und lösten weltweit Bestürzung aus. Dort, wo sich einst ein Hort des Lebens zusammengestimmt hatte, lag ein Areal aus Asche. Uralte Bäume waren zu Stümpfen niedergebrannt, Tiere kläglich verkohlt, ortsgebundene Gemeinschaften wie die Munduruku, die seit Jahrhunderten das Land hüten, hatten grosse Flächen von ihrem angestammten Territorium verloren. Wieder einmal.

Der Hilfeschrei einer Bekannten aus São Paulo erreichte mich auf meinem Handy. »Es regnet Asche«, schrieb sie aufgeregt und schickte mir, dem in Europa aufgewachsenen und in Mexiko lebenden Autor, das Bild eines verdunkelten Himmels, der bedrohlich über die brasilianische Metropole hinwegzog. »Wir können nicht einmal mehr atmen. Schaut euch den Himmel an, lasst die Welt wissen, was hier passiert!« Sie meinte: deine Welt, diejenige des globalen Nordens.

Diese Welt weiß es, dachte ich niedergeschlagen, aber fühlt sie es auch? Mir drängte sich eine Frage auf, sie begleitet mich bis heute, jedes weitere Mal, wenn Wälder brennen, Arten aussterben, Flüsse über die Ufer treten oder Plastik in den Meeren treibt: Hat der Klimawandel unsere Herzen jemals erreicht? Ist die Klimakrise nicht auch eine Krise unserer westlichen rationalisierenden Wahrnehmung, die mit einem Mangel an Empfindsamkeit einhergeht?


 

 

Flug über ein abgeholztes Gebiet im Amazonas in Richtung Sarayaku-Gebiet, Provinz Pastaza. Foto: Nicola Ókin Frioli

Am Ende eines mechanistischen Weltbilds

»Fast nie kommt der Mensch mit Vernunft zur Vernunft«, hielt der französische Philosoph Montesquieu in seinen »Persischen Briefen« fest und befürchtete bereits 1721, dass am Ende die Beschleunigung eines Erkenntniszuwachses zur Vernichtung der Erde beitragen könnte, insofern ein spezifisches Zustandekommen von Wissen das Einfühlungsvermögen abstumpfen liesse.

In Klimafragen läuft die Wissensproduktion auf Hochtouren. Jeden Tag häufen sich Zahlen, Karten und Kurven. Wissenschaftler*innen gehen die Rottöne aus, wenn sie vor den Folgen der Erderwärmung warnen. Politiker*innen beschwichtigen. Unternehmen versprechen, Emissionen zu reduzieren. 1,5-Grad-Ziele werden formuliert, und gleichzeitig schwebt die Vorstellung eines Thermostats im Raum, das reguliert werden kann. Die Natur leide, hört man, man müsse sie endlich retten, etwa mit Geoengineering.

Aus all den Stimmen spricht Sorge. Eine Dringlichkeit, die mehr als geboten erscheint: Zu viele Menschen leugnen immer noch die Folgen der menschengemachten Klimakrise. Aus all den besorgten Stimmen klingt aber gerade jene westliche, mechanistische Weltsicht an, die Mensch und Natur seit Jahrhunderten erst zu abstrakten Objekten gemacht hat, die es zu beherrschen galt, statt einen mitfühlenden Bezug zur Welt herzustellen.

Das Denken dekolonialisieren

Westliches Denken beruht auf Dualismen, »die tief durch unsere Existenz schneiden«, wie es der deutsche Biologe und Philosoph Andreas Weber beschreibt. Die wirkmächtigsten davon sind die Trennung zwischen Natur und Kultur, Körper und Geist. Sie münden in eine Reihe weiterer Gegensätze: menschlich und nicht-menschlich, das Reale und seine Repräsentation, das Säkulare und das Spirituelle, das Individuum und das Kollektive.

Die alleinige Existenz solcher Gegenüberstellungen ist nicht problematisch, wie die Begriffe Yin und Yang aus der chinesischen Philosophie nahelegen, da sie sich ergänzen. »Das Problem liegt in der Art und Weise, wie solche Trennungen kulturell behandelt werden«, erklärt der kolumbianische Anthropologe Arturo Escobar, »insbesondere in den Hierarchien, die zwischen den beiden Teilen aufgespannt sind.« Das heißt, inwieweit einem Teil des Paares die Bezeichnung »entwickelt«, »unterentwickelt«, »höherwertig« und »minderwertig« zugeschrieben wird.

Im westlichen Denken wird ein Naturzustand meist als wild und roh imaginiert, der mit Vernunft zivilisiert werden kann (Hobbes). Der uns umgebende Kosmos aus Bäumen, Pflanzen und Tieren wird zum unbelebten Ressourcenraum herabgestuft, dessen sich allein der Verstand bemächtigen kann (Descartes). Die Wirklichkeit wird als etwas Äusserliches dargestellt, das wir nur als subjektive Interpretation erfahren können (Kant).

Die Fülle der Wirklichkeit durch das Nadelöhr der Rationalität zu ziehen, darin wurzelt abendländisches Denken, das von weissen Männern geprägt wurde und als Ergebnis ihrer geschichtlichen Verewigungsarbeit gelesen werden kann: sich an der Spitze selbst entwickelter Hierarchien festzuschreiben, um daraufhin patriarchale und koloniale Strukturen auszubilden, andere auszubeuten, nur um die eigene Erkenntnisperspektive als fortschrittlich, kultiviert oder objektiv zu markieren.

Der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro erkennt deshalb in der westlichen Metaphysik »Quelle und Ursprung jedes Kolonialismus«. Die französische Politologin Françoise Vergès weist darauf hin, nicht vom Anthropozän zu sprechen, sondern besser vom »rassistischen Kapitalozän«.

Die westlichen Dualismen sorgen nicht für eine Zerrüttung die Welt, sie lösen traumatische Erfahrungen aus, die darin münden, sich fehl am Platz zu fühlen und keinen Sinn mehr im Leben zu verspüren. Das steht im Widerspruch zu der eigentlichen, ökologischen Erfahrung: Menschen sind leibliche, liebende Wesen, sie existieren, weil alles andere existiert und auf einem Geflecht von Gegenseitigkeit beruht.

Wenn uns die Erhaltung der Erde am Herzen liegt, wäre es notwendig, Grundzüge unseres Denkens kritisch zu hinterfragen und somit die Beziehung zur Welt zu verändern. Um den brasilianischen Umweltaktivisten Chico Mendes zu paraphrasieren: Ökologisches Handeln ohne dekolonisiertes Denken ist nur Gartenarbeit. Erst wenn wir die Prozesse der Entfremdung offenlegen, ist die Emanzipation hin zu allem Lebendigen möglich. Wie kann das gelingen?

Satellitenbilder der Umgebung des Parque Xingu in Brasilien, einem Gebiet des Widerstands der indigenen Gemeinschaften. (1984-2018).

Mit der Erde leben, nicht mehr gegen sie

Fangen wir an, die künstliche Trennung zwischen Natur und Kultur endgültig aufzulösen und jegliche Hierarchisierung aufzugeben. Wir brauchen nicht in die Natur zu gehen, wir sind bereits Natur: lebendige Körper, von Geburt an eingewoben in diese Welt, die kein Äusserliches kennt. Folgen wir dem neugierigen Wachstum von Pflanzen, wie sie einen gemeinsamen Atemraum erschaffen. Fühlen wir, dass die belebte Welt eine Welt von Akteuren ist, die schöpferisch tätig sind und ihre Umgebung beständig umgestalten. Jede Wirkungsmacht (Agency) verlangt nach Anerkennung. So spricht die Verfassung von Ecuador der Mutter Erde, »Pachamama«, umfassende Rechte zu. In der Schweiz hat die Würde von Pflanzen und Tieren juristischen Einzug in die Verfassung gefunden.

Brechen wir radikal mit unserer Vorstellung vom Wissen. Denn alles, was lebt, folgt einer inneren Bedeutung. »Auch ein Baum macht sich Vorstellungen von der Welt«, schreibt der kanadische Ethnologe Eduardo Kohn, der mit der Gemeinschaft der Runa im Amazonas jahrelang zusammengelebt hat. Dieses Netz aus Bedeutungen zu verstehen, verlangt Achtung und Empfindsamkeit. Westliche Wissenssysteme können das schwer vermitteln, sie blenden es geradezu aus.

Am Ende müssen wir eine Welt mitgestalten, die viele Welten beherbergt. Wegweiser auf diesem Weg können hingegen die Weisheitstraditionen ortsgebundener Gemeinschaften sein. Sie sind seit jeher in den Fortbestand des Lebens auf der Erde eingebettet, sind Teil ihres Bewusstseins, begreifen sich als Wesen unter vielen und bilden Verwandtschaft mit allen Arten, Pflanzen und Pilzen aus. Solidarität ist für sie eine Zärtlichkeit der Spezies. Sie hegen keine Besitzansprüche über das Land, sondern gehören zum Land, das sie gemeinschaftlich pflegen und im Sinne einer Allmende fruchtbar halten.  

Ich spreche unvermeidlich aus einer westlichen Perspektive, aber ich spreche aus Anerkennung. Ortsgebundene Gemeinschaften sind der Erde am nächsten, von Anfang an und seit Tausenden von Jahren Erstbewahrer*innen eines Ökosystems, das im tiefsten Sinne auf Demut, Gabe und Gegenseitigkeit beruht. Mit einem Wort: auf Liebe.

An die westliche Zivilisation gerichtet, hat Nemonte Nenquimo, eine Anführerin der Waorani, die im Amazonasbecken leben, gesagt: »Die Erde erwartet nicht, dass wir sie retten, sie erwartet, dass wir sie respektieren. Und wir, als indigene Völker, erwarten das Gleiche.«

 

Der Essay erschien zuerst im Rahmen des Festivals CULTURESCAPES  Amazonia 2021.


 

 

Ein Boot fährt auf dem Bobonaza-Fluss in der Nähe der Gemeinde Sarayaku im Amazonas-Regenwald in der Provinz Pastaza. Foto: Nicola Ókin Frioli

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